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Title: $„Ordnung und Organisation“. Interview zur Historiographie der Biologie mit Hans‐Jörg Rheinberger und Peter McLaughlin**
Abstract: Anlässlich des Erscheinens von Ordnung und Organisation: Begriffsgeschichtliche Studien zu den Wissenschaften vom Leben im 18. und 19. Jahrhundert, einer Sammlung früher biologiehistorischer Texte von Hans-Jörg Rheinberger und Peter McLaughlin,1n1 Rheinberger und McLaughlin 2021. führten Mathias Grote und Anke te Heesen (MG und ATH) ein Interview mit den Autoren und Herausgebern (HJR und PML). Es behandelt die Entstehung der Texte in den 1970er und 1980er Jahren und dokumentiert damit zugleich einen Aufschwung der Geschichte der Lebenswissenschaften in Deutschland zu dieser Zeit. Das Gespräch fand im Mai 2021 digital statt und wird hier in Teilen wiedergegeben. AtH: Wie ist es zu diesem Band gekommen? Wenn man die Texte liest, so erfährt man auch viel über Eure Zusammenarbeit, denn einige sind auf der Grundlage Eurer gemeinsamen Unterrichtssituation entstanden. Vielleicht könnt Ihr zunächst den Band und seine Entstehung kommentieren? HJR: Ich habe mich schon lange mit dem Gedanken getragen, diese Texte einmal gebündelt verfügbar zu machen. Sie tragen den Stempel jener Jahre. Herausgekommen ist ein ganz stattlicher Band, der verstreute und kaum noch greifbare Texte versammelt. Im Lauf der Vorbereitung merkte ich aber, dass mir das alles gar nicht mehr so unmittelbar vor Augen stand, und es wurde mir auch klar, dass das Ganze Peter genauso wie mich betrifft. Also habe ich ihn gefragt, ob er vielleicht Lust hätte mitzumachen. Das hatte er, und so haben wir uns gemeinsam an die Arbeit gemacht. Ein Verlag musste auch gefunden werden. Bei Ekkehard Höxtermann von der Basilisken-Presse rannten wir damit offene Türen ein. Er hat sofort zugesagt, den Band in sein biologiehistorisches Programm aufzunehmen. AtH: Du hast in unserem kurzen Vorgespräch erwähnt, dass die 1980er Jahre etwas Besonderes hatten. Also geht es nicht einfach nur um das Wiederverfügbarmachen von Texten oder darum, eine Lücke zu schließen, sondern da ist scheinbar noch mehr. HJR: Ja natürlich. Die damalige wissenschaftshistorische Großwetterlage – wenn ich das richtig sehe, hat sie sich gar nicht so sehr als ein großes Wetter dargestellt – war institutionell gesehen einigermaßen divers. Seit den späten 1960er, frühen 1970er Jahren, als die Gründung neuer Universitäten und die massive Expansion auch des Bildungssystems begann, wurden eine ganze Reihe vor allem medizinhistorischer Lehrstühle geschaffen, und eben auch einige wissenschaftshistorische. Aber es lag auch etwas in der Luft, das seinen Ausdruck im Berliner Forschungsverbund für Wissenschaftsgeschichte fand, eine Initiative, die vom neu gegründeten Wissenschaftskolleg zu Berlin ausging. Wir verkehrten aber damals zunächst noch nicht in diesen Kreisen, das war dann erst in den späten 1980er Jahren der Fall. PML: Ich meine, zwei Dinge sind nicht ganz neu an der Idee zu diesem Band. Wir hatten irgendwann einmal in den späten 1980er, frühen 1990er Jahren die Vorstellung, zusammen die Geschichte der Biologie des 18. Jahrhunderts zu schreiben. Aber das war einfach nicht drin, weil aus beruflichen Gründen keiner von uns beiden die Zeit hatte, die dazu notwendigen Dinge zu lesen und aufzuarbeiten. Wenn man eine Geschichte der Biologie im 18. Jahrhundert schreibt, muss man etliche Sachen um der Vollständigkeit willen machen, die philosophisch nicht ganz so spannend sind, aber sie müssen dabei sein. Das war also die eine Idee, die bereits existierte. Zweitens muss man bedenken, dass die Sachen aus den 1980er Jahren zeigen, auf welche Weise wir lernten, wie man Biologiegeschichte macht: Wir waren beide Autodidakten in der Wissenschaftsgeschichte. Ich war zwar offiziell Promotionsstudent der Medizingeschichte, aber keiner von uns hatte Geschichte oder Wissenschaftsgeschichte studiert. Wir lernten, indem wir es einfach getan haben und es uns auch gegenseitig beibrachten. Und das findet man in den Aufsätzen aus den 1980er Jahren dokumentiert. MG: Das ist ein interessanter Punkt. Aber einen Schritt zurück: Wie habt Ihr Euch kennen gelernt, was bildete den Kontext der Texte, die wir in diesem Band finden? PML: Der Kontext – das waren [Georges-Louis Leclerc de] Buffon und Wolfgang Lefèvre. Anlässlich eines Projektes zu Kant begann ich mich mit der Biologiegeschichte zu beschäftigen. Ich hatte vor, über Kants Philosophie der Biologie zu promovieren, und meine Doktormutter Margherita von Brentano an der FU [Freie Universität Berlin] meinte, dazu müsse man Buffon lesen, also begann ich Buffon zu lesen. Zu der Zeit hat Wolfgang Lefèvre ein Seminar über Kants Naturphilosophie gegeben und darin ein Referat zu Buffon vergeben. Das habe ich dann gehalten. Es war ein richtiges Seminar, drei Stunden lang, und ich hielt ein zweistündiges Referat, das praktisch das Gesamtwerk von Buffon behandelte. Das ging relativ gut; Lefèvre fand es wohl auch gut, wollte aber wissen, ob das wirklich stimmt, denn er selbst kannte Buffon nicht so eingehend und meinte: „Wen fragen wir?“ Da kam Hans-Jörg ins Spiel und so haben wir uns eigentlich kennengelernt – also erst im Kontext der eben erwähnten Wissenschaftsgeschichte der Biologie. HJR: Bei mir lief die Sache ein bisschen anders: Ich habe 1973 meinen Magister gemacht. Meine Magisterarbeit war wissenschaftstheoretisch orientiert, kann man sagen: Es ging um die erkenntnistheoretischen Aspekte im Werk von Louis Althusser, im Wesentlichen also seine Marx-Lektüre, deren epistemologische Dimension. In diesem Kontext hatte ich mich intensiv mit den damals gängigen wissenschaftsphilosophischen Arbeiten befasst, [Karl Raimund] Popper und [Paul] Feyerabend, [Thomas S.] Kuhn natürlich auch. So kam bei mir ein ganzes Amalgam zusammen, aufgrund dessen ich mich 1973 dazu entschieden habe, ein naturwissenschaftliches Studium an das Philosophiestudium anzuschließen, um quasi Erfahrungen aus erster Hand zu sammeln. Das war auch die Zeit intensiver Curriculumsdiskussionen, nicht nur bei den Geisteswissenschaftlern, sondern auch bei den Naturwissenschaftlern. In diese Diskussionen war ich ganz unmittelbar involviert, als ich mein Biologiestudium begann. Einer der ständigen Streitpunkte war damals das abgeschaffte Philosophicum für Naturwissenschaftler, für das irgendwie ein Ersatz gefunden werden musste. Viele Naturwissenschaftler waren überhaupt dagegen, fanden es unnötig, aber es gab eben auch genügend Interesse, die eine oder andere Form auszuprobieren, Studierende der Naturwissenschaften mit Theorie in Kontakt zu bringen. „Theorie“ war damals das große Wort – es umfasste mehr als nur Philosophie. In diesem Kontext habe ich bereits relativ früh – es muss um die Mitte der 1970er Jahre gewesen sein – einen Lehrauftrag am Fachbereich Biologie bekommen, der interessanterweise „Philosophie und Molekularbiologie“ hieß. Zu diesem Zeitpunkt waren die beiden Bücher von Jacques Monod und François Jacob ins Deutsche übersetzt worden, die ich dann mit den Studenten las. Monod hat mich nicht besonders vom Hocker gerissen, das war immer noch alles sehr cartesisch. Aber bei Jacob hatte ich das Gefühl: Hoppla, da gibt es eine Form, historisch über die Naturwissenschaften nachzudenken, die theoretisch interessant ist. Da ging es nicht darum, texttreue Gesamtausgaben zu machen, was damals mehr oder weniger das Hauptgeschäft der etablierten Wissenschaftsgeschichte war – „antiquarisch“ hätte Nietzsche gesagt. So habe ich nach Angeboten gesucht, wie man die Wissenschaften kritisch reflektieren kann, und in der Verlängerung dessen bin ich Schritt für Schritt stärker in die Wissenschaftsgeschichte hineingeraten. Wie Peter sagt, total autodidaktisch – keiner von uns hatte Wissenschaftsgeschichte als Fach studiert, und auch nicht an derartigen Seminaren teilgenommen, also ich jedenfalls nicht. MG: Ihr beschreibt sehr plastisch eine Konstellation aus Texten, Institutionen, Personen, die für Eure Aufsätze wichtig waren. Uns würden auch weitere Orte interessieren, wie zum Beispiel das im Band benannte Kolloquium der Biologiehistorischen Arbeitsgemeinschaft in Marburg an der Lahn, oder ein Arbeitsgespräch zu Phylogenetik und Systematik am Forschungsinstitut Senckenberg. Von diesen wissen wir noch sehr wenig. HJR: Bis in die späten 1970er und frühen 1980er Jahre war die Biologiegeschichte in der Wissenschaftsgeschichte noch eher randständig. Ich kann mich erinnern, wie der Band von Ernst Mayr, The Growth of Biological Thought erschienen ist:2n2 Mayr 1982. Mayr war einer von denen, die sich in dieser Zeit dafür stark gemacht haben, dass Biologiegeschichte genauso wichtig für Wissenschaftsgeschichte ist wie Physikgeschichte, und dass man vielleicht noch ganz andere Sachen lernen kann, wenn man sich diesem Gebiet historisch zuwendet. Damals war Biologiegeschichte als solche an den Universitäten nicht aktuell und schaut man sich etwa die Wissenschaftsgeschichte dieser Zeit an der Technischen Universität Berlin an, so findet man praktisch nur Mathematikhistoriker und Physikhistoriker. Anke, Du wirst dich entsinnen, das ging noch bis in die frühen 2000er Jahre, dass es an der TU hieß: „Wir sind ein Institut für die Geschichte der exakten Wissenschaften“ und nicht so ein plim plim, mit, ich weiß nicht, Sammeln und Ordnen und solchen Dingen. AtH: „Sehr geehrte Frau te Heesen, bitte teilen Sie uns mit, ob Sie Mathematik und/oder eine Naturwissenschaft studiert haben, ansonsten bitten wir Sie davon abzusehen, diesen Lehrauftrag weiterhin wahrzunehmen.“ HJR: Genau so, und deswegen hat sich das kleine, auch biologiehistorisch interessierte Grüppchen eigentlich außerhalb der Uni organisiert. Da gab es einen Arbeitskreis Biologiegeschichte, der noch nicht einmal einen Verein darstellte, sondern einen lockeren Verbund, in dem man sich einmal im Jahr oder so getroffen hat. Armin Geus hat unter anderem dazu gehört, und Dietrich von Engelhardt. PML: Es war eine lockere Verbindung von Freunden, was überhaupt ein interessanter Punkt ist, denn die Biologiegeschichte war institutionell ein Anhängsel der Medizingeschichte. Es gab an den Universitäten in der Regel eine C4-Stelle für Medizingeschichte und oft neben diesem Lehrstuhl eine C3-Professur, die entweder aus der klassischen Philologie oder der Biologe besetzt war. Man könnte sagen, die Biologiegeschichte war die C3 der Medizingeschichte – in Heidelberg mit [Hans] Querner, der auch zu diesem Grüppchen gehörte, zudem die Marburger Clique mit dem erwähnten Geus. Das ist institutionengeschichtlich interessant, weil dieses Grüppchen sozusagen die Vorgänger-Gemeinschaft der Deutschen Gesellschaft für Geschichte und Theorie der Biologie bildete: diese kleine Professorenclique aus Heidelberg und Marburg plus ihre Freunde in der DDR, die oft Rentner waren und reisen durften. C3-Biologen und DDR-Rentner haben sich für Biologiegeschichte interessiert und irgendwie schienen sie alle Freunde von Ernst Mayr zu sein. AtH: Und Du warst auch schon mit dabei, Hans-Jörg? Warst Du Teil der Marburger Clique? HJR: Naja, in Marburg hat man sich getroffen, aber auch an anderen Orten. Ab den frühen 1980er Jahren haben wir verstärkt Anschluss gesucht. In Berlin gab es praktisch ja nur [Rolf] Winau, der ein offenes Ohr für solche Dinge hatte. PML: Und wir hatten dieses Projekt mit dem Argument-Verlag, Materialistische Wissenschaftsgeschichte,3n3 Bonik et al. 1981. Zum Band beigetragen hatten K. Bonik, J. Brockmeier, E. Gärtner, W. Gutmann, E. Hickel, H. Hörz, E. Mendelsohn, J. Rohbeck, V. Schurig, M. Weingarten, K. Wenig und M. Wolff. Die Redaktion des Bandes oblag H. Bien, G. Herrgott, P. McLaughlin, H.-J. Rheinberger, J. Tuguntke und J. Zeller. ein Bändchen mit einem völlig irreführenden lamarckistischen Titelbild (Abb. 1). Das hat uns der Verlag untergejubelt. Wir arbeiteten an diesem Projekt mit ein paar anderen Gleichgesinnten aus dem Philosophischen Seminar und dem Institut für Psychologie der FU, und einige der Interessenten waren Marburger Philosophiestudenten. Als diese Gruppe sich damals in Marburg zu einem Vortrag von Dorothea Kuhn getroffen hat, haben sie uns eingeladen mitzumachen. Hans-Jörg und ich saßen zu dieser Zeit an Darwin und sollten Vorträge halten. Es hat geschneit an diesem Tag, wir saßen den ganzen Tag im Zug – Transitstrecke! – und verpassten alles. Aber ich durfte am nächsten Morgen meinen Vortrag über Blumenbach noch halten, und über Kontakte zu Studenten in Marburg kamen wir dann in die Diskussion mit dieser kleinen Professorenclique. Gunter Mann hat den Vortrag dann in der von ihm herausgegebenen Zeitschrift für Medizingeschichte publiziert. „Ein völlig irreführendes Titelbild“: Argument-Sonderband 54 (Bonik et al. 1981). AtH: Die Leute, die Ihr als „C3-Clique“ beschreibt, wie auch die DDR-Rentner, sie alle hatten aber mit der Theorie nicht viel am Hut, sondern eher mit Geschichte, oder? PML: Ja, sie waren eher historisch interessiert; aber sie waren uns durchaus freundlich gesinnt. AtH: Und da habt Ihr gewissermaßen frischen Wind hineingebracht? War das sowas wie: „Wir machen eine ganz andere Wissenschaftsgeschichte“? HJR: Naja, irgendwie letztlich schon. Peter hat das Argument-Bändchen erwähnt, die Materialistische Wissenschaftsgeschichte. Es gab um die Mitte der 1970er Jahre Bemühungen, Everett Mendelsohn als Professor nach Berlin zu holen. Wenn ich mich richtig erinnere, ging das im Wesentlichen von Margherita von Brentano aus, ist aber aus mir unbekannten Gründen nicht zu Stande gekommen und im Sande verlaufen. Von Mendelsohn findet sich ein Aufsatz in diesem Argument-Bändchen (übersetzt durch „die Redaktion“, wie es dort heißt). Everett war jemand, der, sagen wir mal, die Sache mit der Geschichte der Wissenschaften etwas weiter gesehen hat. Sein Aufsatz behandelt „Das Kontinuierliche und das Diskrete in der Geschichte der Wissenschaft“. AtH: Und er ist auch einer der wenigen frühen Biologiehistoriker. HJR: Ja, er hat das Journal of the History of Biology begründet, in dem dann unser Aufsatz über „Darwin und das Experiment“ erschienen ist. Darwin war ein großes Thema damals, vielleicht weniger in Deutschland, aber international gab es bereits die sogenannte „Darwin Industry“. Es war die Zeit, als man anfing, seine notebooks zugänglich zu machen und alles drehte sich darum, wie er eigentlich zu seiner Evolutionstheorie gekommen war. Der 100. Todestag fiel in diese Zeit und war der Anlass, zu dem Peter und ich uns zusammengetan und versucht haben, einen etwas anderen Blick auf Darwin zu werfen. MG: Der starke Bezug zur organismischen Biologie, zur Evolutionstheorie wie zur Figur Ernst Mayr ist interessant. Ein weiteres Puzzlestückchen im Bild dieser Phase wäre vielleicht noch ein begriffsgeschichtliches Kolloquium an der FU Berlin, in dem auch Wolfgang Lefèvre wieder auftaucht. PML: Das verlief wiederum parallel. Als ich an der FU Philosophie studiert habe, gab es oben unter dem Dach des Instituts ein berüchtigtes Hegel-Kolloquium mit Peter Furth, Bernhard Heidtmann, Wolfgang Lefèvre und Peter Damerow. Die saßen zusammen und haben auf hohem Niveau Hegels Logik Satz für Satz durchgenommen; Hans-Jörg war einige Zeit auch dabei. HJR: Ja, als ich anfing, Biologie zu studieren, war dieses Hegel-Kolloquium für mich irgendwie noch der Link zur Philosophie, zwischen 1973 und 1976 etwa muss ich dabei gewesen sein; ebenso wie damals noch Johannes Rohbeck – wir waren die Jungen und die anderen die Gestandenen. Wir haben tatsächlich wie von Peter geschildert die Reflexionslogik Satz für Satz durchdekliniert, manchmal nicht mehr als einen Paragraphen für ein ganzes Seminar. Auf der einen Seite war das irgendwie spannend, auf der anderen Seite total unbefriedigend. Es existierten Verbindungen zur damaligen Hegel-Gesellschaft mit ihren regelmäßigen Jahrestagungen; Wilhelm Raimund Beyer war damals deren Chef, er hat in Salzburg residiert. Meine ersten öffentlichen Vorträge hielt ich auf diesen Hegel-Kongressen: Was ich machte, war nicht mehr richtig Philosophie, aber es war auch noch nicht richtig Wissenschaftsgeschichte. Es war ein bisschen Evolutionstheorie, denn wenn man in der Biologie über Theorie sprach, dann meinte man natürlich die Evolutionstheorie. Peter hat es ganz am Anfang gesagt, wir haben da unseren Weg gesucht, und zwar mit unterschiedlichen Motivationen: Peter war vor allem über Kant an der Biologiegeschichte interessiert, für mich ergab sich dadurch die Möglichkeit, einen gewissen theoretischen Anspruch mit dem zu verbinden, was ich damals studiert habe – nämlich Biologie. Das Meiste, was man im Biologiestudium trieb, war theoretisch nicht besonders herausfordernd, mit Ausnahme der Kolloquien bei Wolfgang Dohle über den Artbegriff. Aber so etwas existierte nur ganz punktuell in diesem Studium. PML: Jedenfalls ging dieses berüchtigte Hegel-Kolloquium zu Ende und Lefèvre und Damerow haben mit etwas anderem weitergemacht, nämlich mit Wissenschaftsgeschichte. HJR: Ja, aber da war ich nicht mehr dabei … PML: … ich war es noch oder stieß dazu, irgendwann in den frühen 1980er Jahren. Damals wurde Physikgeschichte betrieben, also der vis viva-Streit, rauf und runter, und Physik zwischen Leibniz und Kant. Gideon Freudenthal kam dazu, und das Kolloquium fand nicht mehr auf dem Dachboden der Philosophie statt, sondern im Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, wo Damerow beschäftigt war. Das ging bis in die späten 1980er Jahre. Ich weiß nicht, wann Ursula Klein dazu gekommen ist, irgendwann Mitte des Jahrzehnts, denke ich. Ein zentrales Thema, das vor allem auch Freudenthal stets wichtig gewesen ist, war die Rolle der Mittel in der Entwicklung der Wissenschaft: Inwiefern bestimmen die Mittel die Wissenschaftsrichtung? Und wir haben alle im Laufe der Zeit unsere eigene Variante dieses Problems entwickelt. HJR: Diese Mittel-Diskussion ging auf die Hegel-Lektüre zurück … PML: … genau, das ist ein eminenter Hegelscher Gedanke … HJR: … der kam aus der Reflexionslogik. MG: Zurück zum Band: Begriffsgeschichte scheint zentral für die versammelten Texte. Vielleicht lässt sich deren Rolle als Ansatz oder Methode im Kontext dieser Seminare und Diskussionen charakterisieren und damit auch jene Vorträge, die in den Band eingeflossen sind. HJR: Ja, das kann man ausführlicher erklären und dabei müssen wir uns ein wenig ergänzen, Peter. Irgendwo in dem Buch von François Jacob steht der Satz, dass es in der Biologie so gut wie keine Theorie gäbe, sondern nur Begriffe. Theorie spielt mithin eine sehr untergeordnete Rolle, jedenfalls Theorie im mathematisch verstandenen Sinne. Und wenn man sich das Buch von Jacob anschaut, sieht man auch, dass es genau so aufgebaut ist: Es sind die zentralen organisierenden Begriffe, oder besser, die mit ihnen verbundenen theoretisch organisierenden Entitäten, welche letztlich auch die praktische Arbeit anleiten, die sichtbare Struktur, die Organisation, und so weiter. Man findet eine ganze Reihe von Begriffen, die in der Biologie immer wieder auftauchen und nicht auszumerzen sind, wie zum Beispiel den Artbegriff, der schon seit dem späten 17. Jahrhundert mehr oder weniger im Zentrum steht. Genau an diesen Beobachtungen haben wir uns eben angefangen abzuarbeiten. PML: Ein bisschen ist es ein Kampf um den Begriff des Begriffs: Es gibt ein Historisches Wörterbuch der Philosophie, also Begriffsgeschichte und damit verbunden eine Tradition von Begriffsgeschichte, in der Begriffe so etwas wie eine Trägheitskraft haben – sie segeln durch die Geschichte und sind „einfach da“. Eine altmodische Wissenschaftsgeschichte hat also Ideen oder Begriffe mit einer gewissen Trägheitskraft versehen, sie müssen nicht von jeder Generation angeeignet und geändert werden, sondern bleiben einfach. Gegen diese Art von „träger“ Begriffsgeschichte kann man eine Begriffsgeschichte setzen, in der man versucht, dem Begriff den „Begriff“ wegzunehmen. HJR: Und zu historisieren. PML: Genau, ihn ordentlich zu historisieren, als etwas, das immer wieder angeeignet werden muss, selbst dann, wenn man einen gewissen hegelianischen Hintergrund hat, wo der Begriff eigentlich alles ist. Begriffe sind sozusagen wie leibnizsche Monaden – sie spiegeln das Ganze, ein Begriff spiegelt das ganze Begriffssystem. Egal welcher Begriff speziell gemeint ist – er hängt mit allen anderen zusammen und man hat ihn nur dann verstanden, wenn man alle verstanden hat. Das ist jetzt eine Karikatur von Hegel, und man könnte das auch Weltbildgeschichte oder Theoriegeschichte nennen. Wie Hans-Jörg schon sagte, bei der Biologie lag es nahe, über Entwicklung, Art, Organismus nachzudenken. Das sind organisierende Begriffe, die wohl anders funktionieren als die physikalischen, etwa Masse. Zur Masse gibt es eine Messvorschrift, zur Art aber gibt es verschiedene Praktiken, es gibt sogar Protokolle darüber, was man tun muss, wenn man den Typus der Art falsch bestimmt hat. Die Grundbegriffe haben einen anderen Charakter. HJR: Sie haben eine andere Konsistenz, könnte man vielleicht sagen. Und man muss hinzufügen, dass sich – hier könnte man vielleicht wieder auf Ernst Mayr verweisen – diese Begriffe selbst, beziehungsweise ihr Gehalt sich entscheidend verändern kann, wie z. B. der typologische Artbegriff seit dem Ausgang des 18. Jahrhunderts sich zu jenem für Darwin zentralen Artbegriff wandelt, welcher nur aus einer Populationsperspektive verstanden werden kann. Aus diesen Überlegungen heraus kann man sich vorstellen, dass wissenschaftshistorische Angebote, etwa die eines Thomas Kuhn mit seiner „Struktur wissenschaftlicher Revolutionen“ interessant waren: Dass es Brüche gibt, dass man versuchen kann, diese Brüche zu identifizieren, die Übergänge dingfest zu machen, und danach zu fragen, wie sie stattfinden und unter welchen Bedingungen. Schließlich kommt noch der weitere Kontext mit ins Spiel, so dass man mit Begriffsgeschichte nicht Ideengeschichte meint, sondern etwas viel Plastischeres. Peter hat von „organisierenden Begriffen“ gesprochen, aber eben auch die praktische Arbeit der Biologen organisierend. PML: Ein kleiner Exkurs, weil Ernst Mayr wieder auftaucht, und die Frage „Warum Biologiegeschichte in den 1980er Jahren?“ im Raum stand. Insbesondere bei Mayr sollte man nicht vergessen, was auch in den 1980er Jahren begann: Fast sämtliche zoologischen und botanischen Lehrstühle wurden umgewandelt in molekularbiologische Lehrstühle. Mayr war natürlich Zoologe und die Biologiegeschichte für ihn insbesondere ein Mittel, um in Harvard den Kampf gegen die Molekularbiologie zu führen, denn man nahm damals an, Feldbiologie sei nicht mehr so wichtig: Organismen, also Tiere, spielten in der Biologie nicht mehr die Hauptrolle. Manchmal wurden die Zoologielehrstühle sogar unter Beibehaltung des Namens in molekularbiologische Lehrstühle umgewandelt; die Hoffnung von manchen aus der Feldbiologie war, dass, wenn es um die Besetzung oder Umwidmung von Lehrstühlen ging, die Geschichte ihnen Argumente in den Fakultätsdiskussionen bringen könnte. Das war wirklich ein wichtiger Faktor in der Entwicklung der Biologiegeschichte zu dieser Zeit. Das war nicht unser Beweggrund, und nicht etwas, zu dem wir beigetragen haben, aber dass Feldbiologie und vor allem ihre Geschichte plötzlich unter Biologen interessant wurden, hat auch etwas mit dieser institutionellen Entwicklung zu tun. HJR: Wobei ich natürlich genau in dieser „feindlichen“ Molekularbiologie gelandet bin und sie zehn Jahre lang im Labor betrieben habe. Vorher war ich etwas unentschlossen, ob ich mich der Elektronenmikroskopie oder der Evolutionsbiologie zuwenden sollte, aber es ist dann eben die Molekularbiologie geworden. Für mich war sie kein Kampfbegriff gegen die Biologiegeschichte, ganz im Gegenteil. Ich empfand die Molekularbiologie als eine totale Befreiung, denn das Fach Biologie war in der frühen 1970ern Jahren immer noch relativ traditionell organisiert: Man machte einen Genetik-Kurs mit Drosophila, man musste seine Bestimmungsübungen im Botanischen Garten absolvieren und so weiter. Und dann gab es eine Einführung in die Molekularbiologie – das war einfach eine andere Welt und eine andere Begrifflichkeit, die da plötzlich in der Biologie um sich griff: Information, Code und was da alles dazu gehört. Hinzu kam – aus meiner Perspektive –, dass die interessantesten Leute in der Biologie Molekularbiologen waren, wie François Jacob oder Jacques Monod, denn sie machten Theorieangebote, oder man sollte vielleicht besser sagen, Reflexionsangebote. Es gab noch ein paar andere wie zum Beispiel Manfred Eigen mit seinen Überlegungen zur Evolutionstheorie und zum Informationsbegriff. Für Ernst Mayr in Harvard mochte es ein Platzgefecht gewesen sein, aus meiner Perspektive wiederum hat es ganz anders ausgesehen. All diese Perspektiven waren irgendwie in der Luft und überkreuzten sich. Zum Beispiel gab es noch eine weitere Gruppe, die in den 1970er und vor allem 1980er Jahren eine Rolle gespielt hat: Evolutionsbiologen einer ganz merkwürdigen Sorte, die sogenannte „Gutmann-Clique“ vom Senckenberg [Naturmuseum] in Frankfurt. Sie vertraten eine anti-darwinistische, organismische Evolutionstheorie. PML: Also nicht richtig anti-darwinistisch, aber sagen wir „Darwin-neutral“. HJR: „Darwin-neutral“, von mir aus, aber jedenfalls nichts mit Zufall und dergleichen: Ein Hydroskelett entsteht aus physikalischen Gründen und nicht aus anderen. Aber diese Leute waren auch am Organismusbegriff interessiert, zwar weniger aus historischer Perspektive, aber für uns war genau dieser Begriff eine Möglichkeit, auch mit ihnen ins Gespräch zu kommen. AtH: Jetzt verstehe ich besser, warum in Eurem Band kein Beitrag zur Molekularbiologie zu finden ist, denn das haben wir uns beim Lesen auch gefragt. Alle Texte betreffen im Wesentlichen die Zeit bis Mitte des 19. Jahrhunderts. Molekularbiologie – um es einfach auszudrücken – war theorie-, aber nicht geschichtsfähig? HJR: Ich würde eher sagen, wir haben uns damals beide – wahrscheinlich nicht aus identischen, sondern aus unterschiedlichen Gründen – die Geschichte der Biologie in einem größeren Kontext aneignen wollen. So wurde das Seminar zu Philosophie und Molekularbiologie in ein wissenschaftshistorisches, also ein Seminar zur Biologiegeschichte, umgewandelt und wir begannen, es gemeinsam zu betreiben. Ich könnte nicht mehr genau das Semester bezeichnen, aber es war zu Beginn der achtziger Jahre. Auf die eine oder die andere Weise wollten wir über etliche Jahre hinweg einen Durchgang durch die Geschichte der Wissenschaften vom Leben machen. Wir haben aber nicht in der Antike angefangen, sondern in der frühen Neuzeit und uns von dort bis in das späte 19. Jahrhundert hinein durchgearbeitet. PML: Ich denke, wir haben einfach nicht angenommen, dass Nachkriegsgeschichte überhaupt Geschichte ist. Man muss ein bisschen Geschichte gemacht haben, bevor man auf den Gedanken kommt, dass „gestern“ auch schon zur Geschichte zählt. MG: Was uns auch sehr interessieren würde, ist die Rezipientenebene: Einerseits gibt es – zugespitzt formuliert – die erwähnten Biologen in der Krise, die sich für Geschichte interessierten, die Wissenschaftler zwischen verschiedenen Stühlen und den Umbruch in der Biologie selbst. Auf der anderen Seite muss es auch Studentinnen und Studenten gegeben haben, denn viele Eurer Texte sind in einem Lehrzusammenhang entstanden. Mit Blick auf den heutigen Lehrbetrieb überrascht zudem, dass viele dieser Seminare offensichtlich gewissermaßen abonniert waren und jedes Jahr weiterliefen. Wir würden gerne von Euch hören, wie Studierende mit diesen theoretisch anspruchsvollen und im Vergleich zur Biologie methodisch anders gelagerten Arbeiten in Kontakt getreten sind, wenn ein solches Angebot regelmäßig existierte. Gab es da prominente Einzelschicksale oder typische Reaktionen von Studierenden? HJR: Zum einen gab es einen kleinen Prozentsatz an interessierten Studierenden der Biologie und Biochemie. Das Seminar haben wir übrigens in der Bibliothek des Instituts für Molekularbiologie der FU Berlin abgehalten, in der Ehrenbergstraße, auch hier unter dem Dach. Soweit ich mich entsinne, hatten wir in der Regel nicht mehr als ein Dutzend Teilnehmer. Die waren motiviert und interessiert. Jedes zweite oder dritte Semester gab es eine Welle von 30 oder 40 Studierenden – das waren die unmotivierten, meist Lehramtsstudenten, die einen Schein machen mussten. Aber wir führten keine Anwesenheitslisten oder dergleichen. Wenn man wollte, konnte man sich durchschleichen, aber das war uns irgendwie egal, denn wir sagten uns: „Wir sind auch nur an denen interessiert, die es wirklich interessiert.“ Die anderen sollen machen, was sie wollen. Einen großen didaktischen Anspruch in dem Sinne hatten wir nicht. Ich habe dann in späteren Jahren immer wieder Teilnehmer getroffen und eine stattliche Anzahl von den Leuten, die damals in den Seminaren saßen, sind Professoren der Biologie geworden. Sie erinnern sich heute noch an diese Seminare und sagen: „Da ist etwas passiert, was sonst im ganzen Studium nirgendwo passierte.“ Also, diese Seminare haben schon einen Effekt gehabt, auch wenn wir das damals natürlich nicht ahnen konnten. MG: Interessant zu hören ist, dass es damals etwas wie ein systematisches Theoriedefizit in den Lebenswissenschaften gab, dass dieses Defizit wahrgenommen wurde und es darauf Antworten gab, die etwas in Bewegung gebracht haben. HJR: Wenn es überhaupt so etwas wie einen didaktischen Anspruch dabei gab, dann bestand er darin, Naturwissenschaftsstudenten in die Lage zu versetzen, einen Text aus einer anderen Zeit zu lesen, zu interpretieren und nicht einfach als Information aufzufassen. So könnte man das vielleicht formulieren. PML: Man muss bedenken, dass Du mindestens zwei Seminare pro Semester gegeben hast, die Philosophie und Molekularbiologie und die Geschichte der Biologie. Meiner Ansicht nach hatte das Philosophie- und Molekularbiologie-Seminar die größte Wirkung, die historischen waren eher kleiner, manchmal waren wir n